Samstag, 13. März 2010
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Kaskaden von Licht und Schatten, Dämonen und kichernde Engel, und Zauberwälder und schwarze Meere, die still ruhen, und dazwischen du, immer wieder du.

Ich habe seit Jahren nicht von dir geträumt. Und als ich erwachte, lief der Regen an den Scheiben herunter.

Das letzte Mal, als wir nebeneinander träumten, regnete es auch, du erwachtest und sagtest:
"Wir haben doch alles getan. Wieviel mehr muss man denn noch tun können? Und du, du hast gezaubert und ich habe immer nur geträumt, ich bin der Träumer. Vielleicht hätten wir nicht träumen sollen."
Und ich wischte den Regen weg, sachte und flüsterte: Wenn man nicht träumt, stirbt man. Nur im Traum kann man Dämonen besiegen und zaubern. Man muss träumen und wir, wir werden auch wieder träumen, und zaubern nach einer langen traumlosen Nacht.

Aber man muss am Anfang anfangen, bei den ganz langen Geschichten.

Am Anfang, als wir im Zauberwald liefen, sagtest du:
"Ich habe heute Nacht von dir geträumt und die Nacht davor auch. Und jede Minute dazwischen." Und das Licht fiel durch die Schatten auf den Boden und tanzte um uns.

Später dann, als wir zaubern konnten, malte ich jeden deiner Schritte im Licht nach, ich schrieb:
Ich habe immer nur von dir geträumt, mein ganzes Leben schon, ich wusste es nur nicht.

Und dann sahen wir diesen Film und flüsterten:
Ich träume, also bin ich, ich träume, also bin ich, ich träume ...
Und du nahmst meine Hand und sagtest: "Ich träume dich, also bin ich ich."

Und dann liefen wir wieder durch den Zauberwald und du fragtest, ob dein Traum auch meiner sei, jetzt und hier und vielleicht für immer.
Und meine Hand hielt mein Herz und ich zählte im Takt, immer wieder: Einmal für mich, einmal für dich, einmal für immer ...

Und sehr viel später, als der Winter in den Zauberwald kam und die Sonne nicht mehr durch die Schatten fiel, als die Schritte schwerer wurden und das zaubern nichts mehr half, schriebst du:
Ich träume nicht mehr, wir haben uns immer nur geträumt.

Und dann sahen wir einen anderen Film und weinten beide bei der Szene und ich dachte:
Können wir uns denn nur in unseren Träumen finden?

Und dann, als es ganz still wurde und wir nur noch den Regen hörten, draussen am Fenster, da sagtest du:
"Wenn du gehst, nimm ihn mit, nein nimm alle mit, bitte." Und als ich ging, versteckte ich sie, alle, für den Tag, an dem du sie suchen und brauchen würdest.

In deinem letzten Brief schriebst du: Mein Traum ist noch hier, und du bist auch noch hier, in den Ecken, am Fenster, in jedem Spiegel und jedem Regentropfen. Hätte ich einen Wunsch frei bei der Wundermachfee, ich wünschte mir ...



Und in meinem letzten Brief an dich stand: Ich schenke dir jeden Wunsch, den ich bei der Wundermachfee habe, solange, bis du wieder zaubern kannst.

Meine Träume blieben bei mir und deine hast du wieder gefunden; der gemeinsame liegt am Grund des stillen Meeres, aber meine Wünsche begleiten dich, bei jedem deiner Schritte, gestern, heute und bis ans Ende. Und komm mich doch mal wieder besuchen, in meinen Träumen, ich träume wieder und vielleicht erinnere ich mich dann besser, wie man zaubert.

[Blue Velvet | Roy Orbison: In dreams]



+ Ein Meta-meta-Text: Ich wollte gern
aber jetzt geht es nicht mehr. Nachdem ich ziemlich lang über einem Text gebrütet habe, der mit dem eigentlichen Text für heute zu tun hatte, musste ich quasi per emotionalem Befehl, zu Hause anrufen. Bestimmmte Dinge, auch Daten und Erinnerungen klären; das ist ja schnell abgehandelt, meine Erinnerungen an meine Kindheit kann man abzählen und weil der Meta-Text von Musik handelte, mehr noch von einem Outing des Fräulein L, dachte ich auch wirklich, da sei schnell abzuhandeln.

Und zum Schluss weinte sie und meinte, dass es ihr leid tue. Und dass sie sovieles und sovieles und alles anders machen würde. Und es spaltet mir jedesmal das Herz und ich will sagen: Nein, hör auf, du warst eine tolle Mutter, aber das stimmt nicht. Sie war objektiv betrachtet nicht das Schlechteste, was man so haben kann, aber mich hat sie verkrüppelt und fast in den Tod getrieben. Und heute ist sie die beste M. aller Zeiten, das spaltet mich auch. Ich kann nicht hassen, aber ich kann auch nicht jemanden verdammen, der sich jetzt soviel Mühe gibt.

Und nein, wir wollen nicht mehr zurückschauen, aber an solchen Abenden müsste jemand im Bett liegen, warm und weich; jemand der nicht fragt und der nicht erschrickt, wenn es warm und nass wird an der Brust. Und der die Decke hochzieht und sagt: Schlaf, Liebes.



Freitag, 12. März 2010
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Ich rätsele immer noch, wie alt meine Kaiser Idell wohl ist. Mittlerweile gibt es die ja wieder in diversen, betörend schönen Varianten, dafür hat meine echte Patina und jede Menge Abrieb an den richtigen Stellen, eine Arbeitslampe halt.
Unterm Sockel klebt ein vergilbter Mini-Aufkleber, auf dem handschriftlich (in fast schon Sütterlin) vermerkt ist: Gekauft am 19.12.1960.
Aber, möchte man dem Käufer zuflüstern: War sie da neu oder gebraucht? Das Modell, dass ich hier habe, sah ich nämlich nirgends wieder. Meine hat keinen lässigen, geschwungenen Griff, sondern einen fast geraden, mit einem langen Holzstück in der Mitte.
(Um hier ein Bild zu posten, müsste ich jetzt meinen Schreibtisch um- und aufräumen, das ist aus Gründen jetzt nicht drin. Zuviel Arbeitskram.) Wenn also jemand eine Seite weiß, wo vielleicht sehr viele Modelle aufgelistet sind, würde er mich glücklich machen. Ein bisschen.

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Sonst?
Ach, ja. Nach meinem Abendspaziergang kehrte ich bei meinem Stammecktürken ein, um ein oder zwei Bier zu erwerben. (Das klingt jetzt falsch, also das mit dem Stamm - de facto ist er der EINZIGE hier in meinem Viertel, der fussläufig erreichbar ist. Ja solche Ecken gibt es in Berlin auch. Ziemlich zentral sogar.)

Es gibt so Tage, an denen ich teilautistisch jeden Menschenkontakt meide und erst nach Einbruch der Dunkelheit das Haus verlasse. Aber dieser kleine, alte Türke in seinem Eckladen, der immer winkt, wenn ich vorbeigehe und im Sommer immer vor die Tür kommt, so es geht - nur um meine Hand zu ergreifen und zu fragen:Hm, geht gut?, der mir immer etwas schenken wollte, wenn ich etwas kaufte, Kaugummis, Schokolade, Süßkram, der nur lächelte, als ich mich endlich traute, ihm zu sagen, dass ich das ganz furchtbar nett fände, aber weder noch äße und seitdem trotz Protest als Ausgleich immer nach unten abrundet und niemals Trinkgeld nimmt, dieser kleine, gebückte Mann, dessen Laden um Punkt 10 schließt und in dem man von allen Oberflächen und dem Fussboden essen oder Wein lecken könnte, der bringt mich an solchen Tagen fast um, mit seiner unbeirrbaren Freundlichkeit und Wärme. Und was wird er mir fehlen, wenn ich hier wegziehe.

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Sonst?
Konnte ich mich heute kaum bis gar nicht aufraffen, das zu tun, was vorgenommen war. Im Lesesessel arbeiten kann ich nicht, der wunderschöne, alte Bürostuhl, der es nicht mehr sehr lange machen wird, hat mein ISG nach jeweils einer Stunde sitzen so vehement traktiert, dass ich permanent aufstehen musste und mich dann plötzlich ganz woanders wiederfand. Ein Traum ist das von zu Hause arbeiten ja immer noch, jedoch ein unerreichbarer fast, wie mir scheint.

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Wurde ich wieder mal durch mehrere Dinge an eine Zeit vor Jahren erinnert, solange ist das noch nicht her, aber gefühlt sind es mehrere Dezennien. Und dann hab ich mal gestöbert und diesen Blogeintrag vorgekramt, der datiert ist: Doloris | 2005-11-24 02:14 Rubrik: [Zwischenleben], und dann geschrieben und gedacht: Egal wie beschissen dieser Tag dir emotional war, es geht weiter, immer weiter, und ja verdammtnocheins, das ist gut so. Aber auch: Ohne diese Teile wird mich kein Mensch je verstehen. Und von diesen Teilen gibt es viele.

Und ja, Sie können jetzt hier aufhören, jetzt kommt der alte Teil, niedergeschrieben vor langer Zeit von einem anderen Stern.
Betitelt war es:
Grenzgänge 1. Fragment, unkorrigiert

Paul genannt Paulchen, bei dem mein Gefühl immer zwischem Zugneigung gepaart mit Mtgefühl und absolutem Genervtsein
schwankte. Der ein Paradebeispiel für einen mittelschweren, bis schweren "Morbus Korsakow" ist, ugs.: Hirn weggesoffen.
Kurzzeitgedächtnis, Teile vom Mittel- und Langzeitgedächtnis auch.
Was einem im ersten Moment und auch lange danach "drollig"
erschien: Alles vergessen, alles verlegen, ständig nur von der weit zurückliegenden Vergangenheit erzählen, ging im Zusammenleben an die eigne, wacklige Substanz; trotzdem konnte ich mich seinem Wesen schlecht entziehen.
Paul, der ständig Dinge vermisste die er
verlegt; dessen Zimmer ich unzählige Male komplett nach einem verlorenen Dingens absuchte, damit er endlich aufhört zu jammern, "ihm wäre schon wieder etwas geklaut worden".
Paul, der jeden Mann "Ernst" oder "Peter" oder "Ernst-Peter" nannte, den wirklichen Ernst jedoch
"Erich", die Frauen alle "Liebes" (in Anwesenheit derselben) oder
"meine Geliebte" (gegenüber Dritten) und der vollends verwirrt war, als dann tatsächlich auch noch ein Peter kam, den er konsequenterweise "Hans" nannte.
Paulchen, der uns zwei Wochen lang jede Nacht mit Julio Iglesias auf Höchstlautstärke quälte, bei Beschwerden immer jammerte, er wär doch fast taub und die Lautstärke hätte er "Ehrenwort!" nur auf 2 gestellt und überhaupt hätte er Kopfhörer angehabt. Weder war er fast taub, noch hat er jemals die Eingangsbuchse für die Kopfhörer gefunden.
Irgendwann erbarmte sich jemand und klaute ihm das Stromkabel.
Paul, der alle Neuankömmlinge fragte, ob sie seinem Schuh begegnet wären - dem, den er wieder einmal irgendwo stehengelassen; auf das obligatorische Nein fing er dann an zu klagen, "wer denn einen armen, alten Mann bestehle", und überhaupt: "Was denn jemand mit einem einzigen Schuh anfinge?!"
Paul, der mir wohl an die 30 Mal die spärlichen photographischen Erinnerungen zeigte, die er ständig mit sich herumtrug, jedesmal mit im Wortlaut ähnlichen Erläuterungen. Nach dem zweiten Mal wusste ich, welche Art Fragen ich stellen musste, dass er sich dabei an schöne
Dinge erinnerte, und so fragte ich ihn denn auch oft - wenn es ihm schlecht ging - von mir aus nach den Photos.
Paul, der unglaublich einschnappen konnte, wenn etwas nicht nach seinem Kopf ging. Der immer um 4 Uhr morgens aufwachte und gewohnheitsmäßig das Radio anstellte, worauf dann sein unglaublich langmütiger Zimmernachbar "Mosi" ebenfalls wach war und manchmal auch die halbe Station.
Paulchen, der in meiner letzten Woche auf die "Rennbahn"* verlegt wurde, weil er zu verwirrt war, um zu wissen, dass man im Bett schläft und nicht auf dem Fussboden der Herrentoilette. Und weil man ihn keine Sekunde aus den Augen lassen konnte, weil er dann unter Garantie naschte - sein Blutzucker war meistens jenseits von gut und böse und der Verwirrtheitsgrad stieg proportional.
Der nur einmal in zwei Monaten Besuch bekam von einer früheren "Geliebten".
Dessen Kinder ihn nicht mehr kennen wollen, weil er ihr Leben versäumt hatte um zu saufen.
Der sich Pflanzen von anderen Stationen und Häusern
zusammenstahl und in seinem Badezimmer ein Feuchtbiotop anlegte.
Der einem ständig von dem Wenigen das er hatte, etwas schenken wollte - die schwarze Zigarettenspitze werde ich hüten, Paul.
Als Bild: Mit nachlässig hochgezogener Hose, die einen Gutteil des Hinterns sehen ließ; also der Unterhose,
so er denn eine trug, mit unterschiedlich farbigen Socken und zwei unterschiedlichen Schuhen, eine Baseballkappe oder meine gestrickte Mütze auf dem Kopf, eine Blume hinter dem einen und eine Zigarette hinter dem anderen Ohr, die zumeist kalte Pfeife im Mund und immer mit mindestens 3 Tüten oder Beuteln in der Hand und einem verschmitzten Ausdruck um die Augen.
Paul, der in seinem klarsten Moment an meiner Schulter untröstlich weinte; bei dem ich nicht wusste und immer noch nicht weiß, ob ich ihm Klarheit wünschen soll.

Volker, der sich Neuankömmlingen immer als "Helmut, 28, 4 Mal geschieden" vorstellte; in unregelmäßigen Jahresabständen "auf Urlaub" (zur Entgiftung) da war - immer hoffend, es einmal entgültig vom Alkohol zu schaffen.
Volker, der auf meinen Stossseufzer: "Nur Irre hier" immer ergänzte: "Und Schwule!", worauf wir gemeinsam vollendeten: "Und irre Schwule!", wobei er sympathischwerweise keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern machte.
Volker, der alle Tricks kannte, nach 17.00 Uhr noch heimlich Kaffee zu kochen, was zu beinahe rauschhaften Entgleisungen im Raucherraum führte.
Mit dem ich Nächte - auf Kaffee - durchquatschte, weil nichts schlimmer gewesen wäre für mich, als zu schlafen und träumen. Der mich alle Kniffe lehrte, wie man es als "Normaler" in der Psychatrie schafft, nicht ver-rückt(er) zu werden.
Volker, der es selbst in meinen (und manchmal auch in seinen) dunkelsten Stunden schaffte, mich zum Lachen zu bringen.
Der mich auf der Intensivstation anrief und sacht fragte, wie es mir denn ginge? Nach meiner Versicherung wohl noch zu leben aber einen Schwall losließ, "wie schwul, feige, dämlich und überhaupt ich denn sei?!", was mindestens so heilsam war wie das zwischen rüde und brutal angesiedelte Verhalten der Schwestern dort.
Volker, der mich nach meiner "Rückführung" auf den Berg als Erster begrüßte, in dem er mich fest in den Arm nahm und weinte, mir dann ins Gesicht schlug und mir in empütterten Ton mitteilte, dass ich "blöde, unzuverlässige Schwuchtel" schließlich noch gebraucht würde - "immerhin hätte ich die Kaffekasse!!!"
Volker, dessen rauhe, authentische Herzlichkeit ich sehr vermisst habe nach seiner Entlassung und dem ich nichts mehr wünschen kann, als "es zu schaffen" - also mit diesem Leben fertig zu werden.

* "Die Rennbahn" - patientensprachlich für die geschlossene Station P1: So genannt, da die Patienten - nicht frei und u. U. nicht fähig/willens hinauszugehen - ihre Tage zumeist damit zubringen, den langen Flur auf- und abzulaufen.


[Und die Erinnerung an das letzte Mal erzählen, betrunken, anders geht es manchmal nicht, vom schlimmsten Erlebnis seines Lebens. Und das Schweigen des Gegenübers, kein Wort, kein-still-in-den-Arm-nehmen, keine Träne. Ja, da hätte ich es schon merken können, dass deine Eiseskälte sich auch auf mich bezog. Ich lerne.]



Donnerstag, 4. März 2010
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Wir lagen im Dunkeln auf der Chaiselongue in diesem riesigen Atelier; ich erzählte den einzigen Witz, den man auf diesem Möbel erzählen kann: Weißt du, warum Barschel bekleidet in der Badewanne gefunden wurde? … weil die Bild-Reporter Chaiselongue nicht schreiben konnten.

Er hat gelacht, dieses tiefe, brummige, durch Mark und Bein gehende Dröhnen. Es waren meine letzten Wochen in S. Ich wollte nur weg aus dieser Stadt, einen Schnitt, einen ganz tiefen, sauberen; zu viel war hier passiert in den Jahren, zu sehr hatte ich mich dieser Stadt und den Menschen entfremdet.

„Was wirst du machen?“, fragte er. „Ich weiß nicht genau“, sagte ich, „erstmal atmen und wegkommen, dann atmen und ankommen – irgendwo.“

„Ich wünsche dir Glück dafür“, sagte er, „und Kraft. Und vergiss uns nicht, hier, in der furchtbaren Stadt; man lässt immer auch etwas zurück.“ Ich drehte mich im Dunkeln um und sagte: „Ich wünsche dir auch etwas“, und er fragte: „Was?“.
„Etwas ganz Schönes. Und Großes. Und rund muss es sein.“ Und er fragte wieder: „Was?“
„Eine Insel, mit zwei Bergen“, sagte ich und da konnte er lachen. Und weinen endlich.

Wir sahen uns nicht mehr vor meiner Abreise, mich zog es danach nicht mehr zurück in diese Stadt; ich wurzelte langsam wieder. Nach Monaten rief ich aus meiner neuen Wohnung im Atelier an und erfuhr, dass er schon aufgebrochen war zu seiner Insel.

Heute Abend werde ich mein Glas Wein auf ihn erheben wie jedes Jahr und ich werde einen Jim Knopf- Clip anmachen. Und dann werde ich lachen, leise. Und weinen.


Man braucht nur eine Insel
allein im weiten Meer
Man braucht nur einen Menschen,
den aber braucht man sehr.
[Mascha Kaleko]




Mittwoch, 3. März 2010
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„Du musst mir helfen“, sagtest du. „Ich habe dir auch geholfen. Weißt du noch damals, als ich an deinem Bett saß?“
Ja, denke ich leise. Wie könnte ich vergessen? Alle Schutzmechanismen, das Verdrängenkönnen mit den Tabletten runtergeschluckt – ehrlich wollte ich schon sein, wenigstens am Ende, mit mir, allein. Ruhig und ehrlich wollte ich sein und nein, du hast mir nicht geholfen.

„Du musst mir helfen“, sagtest du, „ich verstehe das alles nicht, du bist damals gegangen ohne ein Wort.“ Monatelanges Reden, Sezieren, Zerteilen, Gespräche, die tiefe Schleifspuren auf meiner Seele ließen – ohne ein Wort?

„Ich bin krank“, sagtest du, „mir geht es schlecht, du musst mir helfen“ und ich wollte nicht mehr müssen.

K. sagt, „… du bist uns ja fast abhanden gekommen, damals.“ und ich bin still und sitze ganz dicht am Wasser und denke: Ich wollte doch gar nicht wirklich weg, nur von dem Gefühl zu ersticken, langsam zerdrückt zu werden von Schuld und Hass und dem, was von außen vielleicht mit Liebe zu verwechseln ist und den Vorwürfen, der Angst, den Manipulationen, den Erpressungen – wieder und wieder und wieder, dieser bodenlosen Wut und dem emotionalen Rasen, dem Aufgefressenwerden bei lebendigem Leib, und diesem „helfen müssen“ – nein, ich wollte gar nicht weg, ich wollte nur leben. Ob man manchmal dafür sterben muss, fragten sich schon andere.
Und K. fängt leise an zu singen: „wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten", und dann bin ich drin, im Wasser.

Und immer wieder fällt mir dieser Tage der Buchtitel ein und ich denke: Was musst du mich gehasst haben, um mich so zerstören zu können. Oder nur nicht geliebt. Wie sehr du mich danach gehasst hast, weiß ich, ich habe den Hass in roten Schlieren von mir abgewischt.

„Du hast mir weh getan“, sagtest du danach, „ich habe dich so geliebt und du hast mich verlassen, du hast mich umgebracht, also habe ich dir auch wehgetan. Du musst mir helfen.“ In deiner Welt war das tatsächlich alles so klar. Bist du nicht mir, bist du nicht mehr.

Es blieb nur ein Riss und der ist geheilt; medizinisch selten, aber er ist geheilt.

Und auch ich bin geheilt. Ich würde dir gern sagen: Ich wünsche dir, dass du lebst. Und glücklich wirst, aber du würdest Zynismus vermuten oder fragen, wie das geht, das Leben.

„Bitte hilf mir, bitte ruf mich an. Wir haben so viel zu bereden, ich habe so viele Fragen.“, schreibst du vor ein paar Tagen. Ich kann dir keine davon beantworten.

So bleibe ich stumm und denke laut und klar: Nein. Ich kann dir nicht helfen und konnte es nie. Das Buch habe ich weggeworfen und ich werde leben. So gut ich es kann, aber ich werde leben.


[Jerold J. Kreisman: Ich hasse dich - verlass' mich nicht. Die schwarzweisse Welt der Borderline-Persönlichkeit | Ton Steine Scherben: Wenn die Nacht am tiefsten]