Freitag, 12. März 2010
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Ich rätsele immer noch, wie alt meine Kaiser Idell wohl ist. Mittlerweile gibt es die ja wieder in diversen, betörend schönen Varianten, dafür hat meine echte Patina und jede Menge Abrieb an den richtigen Stellen, eine Arbeitslampe halt.
Unterm Sockel klebt ein vergilbter Mini-Aufkleber, auf dem handschriftlich (in fast schon Sütterlin) vermerkt ist: Gekauft am 19.12.1960.
Aber, möchte man dem Käufer zuflüstern: War sie da neu oder gebraucht? Das Modell, dass ich hier habe, sah ich nämlich nirgends wieder. Meine hat keinen lässigen, geschwungenen Griff, sondern einen fast geraden, mit einem langen Holzstück in der Mitte.
(Um hier ein Bild zu posten, müsste ich jetzt meinen Schreibtisch um- und aufräumen, das ist aus Gründen jetzt nicht drin. Zuviel Arbeitskram.) Wenn also jemand eine Seite weiß, wo vielleicht sehr viele Modelle aufgelistet sind, würde er mich glücklich machen. Ein bisschen.

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Sonst?
Ach, ja. Nach meinem Abendspaziergang kehrte ich bei meinem Stammecktürken ein, um ein oder zwei Bier zu erwerben. (Das klingt jetzt falsch, also das mit dem Stamm - de facto ist er der EINZIGE hier in meinem Viertel, der fussläufig erreichbar ist. Ja solche Ecken gibt es in Berlin auch. Ziemlich zentral sogar.)

Es gibt so Tage, an denen ich teilautistisch jeden Menschenkontakt meide und erst nach Einbruch der Dunkelheit das Haus verlasse. Aber dieser kleine, alte Türke in seinem Eckladen, der immer winkt, wenn ich vorbeigehe und im Sommer immer vor die Tür kommt, so es geht - nur um meine Hand zu ergreifen und zu fragen:Hm, geht gut?, der mir immer etwas schenken wollte, wenn ich etwas kaufte, Kaugummis, Schokolade, Süßkram, der nur lächelte, als ich mich endlich traute, ihm zu sagen, dass ich das ganz furchtbar nett fände, aber weder noch äße und seitdem trotz Protest als Ausgleich immer nach unten abrundet und niemals Trinkgeld nimmt, dieser kleine, gebückte Mann, dessen Laden um Punkt 10 schließt und in dem man von allen Oberflächen und dem Fussboden essen oder Wein lecken könnte, der bringt mich an solchen Tagen fast um, mit seiner unbeirrbaren Freundlichkeit und Wärme. Und was wird er mir fehlen, wenn ich hier wegziehe.

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Sonst?
Konnte ich mich heute kaum bis gar nicht aufraffen, das zu tun, was vorgenommen war. Im Lesesessel arbeiten kann ich nicht, der wunderschöne, alte Bürostuhl, der es nicht mehr sehr lange machen wird, hat mein ISG nach jeweils einer Stunde sitzen so vehement traktiert, dass ich permanent aufstehen musste und mich dann plötzlich ganz woanders wiederfand. Ein Traum ist das von zu Hause arbeiten ja immer noch, jedoch ein unerreichbarer fast, wie mir scheint.

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Wurde ich wieder mal durch mehrere Dinge an eine Zeit vor Jahren erinnert, solange ist das noch nicht her, aber gefühlt sind es mehrere Dezennien. Und dann hab ich mal gestöbert und diesen Blogeintrag vorgekramt, der datiert ist: Doloris | 2005-11-24 02:14 Rubrik: [Zwischenleben], und dann geschrieben und gedacht: Egal wie beschissen dieser Tag dir emotional war, es geht weiter, immer weiter, und ja verdammtnocheins, das ist gut so. Aber auch: Ohne diese Teile wird mich kein Mensch je verstehen. Und von diesen Teilen gibt es viele.

Und ja, Sie können jetzt hier aufhören, jetzt kommt der alte Teil, niedergeschrieben vor langer Zeit von einem anderen Stern.
Betitelt war es:
Grenzgänge 1. Fragment, unkorrigiert

Paul genannt Paulchen, bei dem mein Gefühl immer zwischem Zugneigung gepaart mit Mtgefühl und absolutem Genervtsein
schwankte. Der ein Paradebeispiel für einen mittelschweren, bis schweren "Morbus Korsakow" ist, ugs.: Hirn weggesoffen.
Kurzzeitgedächtnis, Teile vom Mittel- und Langzeitgedächtnis auch.
Was einem im ersten Moment und auch lange danach "drollig"
erschien: Alles vergessen, alles verlegen, ständig nur von der weit zurückliegenden Vergangenheit erzählen, ging im Zusammenleben an die eigne, wacklige Substanz; trotzdem konnte ich mich seinem Wesen schlecht entziehen.
Paul, der ständig Dinge vermisste die er
verlegt; dessen Zimmer ich unzählige Male komplett nach einem verlorenen Dingens absuchte, damit er endlich aufhört zu jammern, "ihm wäre schon wieder etwas geklaut worden".
Paul, der jeden Mann "Ernst" oder "Peter" oder "Ernst-Peter" nannte, den wirklichen Ernst jedoch
"Erich", die Frauen alle "Liebes" (in Anwesenheit derselben) oder
"meine Geliebte" (gegenüber Dritten) und der vollends verwirrt war, als dann tatsächlich auch noch ein Peter kam, den er konsequenterweise "Hans" nannte.
Paulchen, der uns zwei Wochen lang jede Nacht mit Julio Iglesias auf Höchstlautstärke quälte, bei Beschwerden immer jammerte, er wär doch fast taub und die Lautstärke hätte er "Ehrenwort!" nur auf 2 gestellt und überhaupt hätte er Kopfhörer angehabt. Weder war er fast taub, noch hat er jemals die Eingangsbuchse für die Kopfhörer gefunden.
Irgendwann erbarmte sich jemand und klaute ihm das Stromkabel.
Paul, der alle Neuankömmlinge fragte, ob sie seinem Schuh begegnet wären - dem, den er wieder einmal irgendwo stehengelassen; auf das obligatorische Nein fing er dann an zu klagen, "wer denn einen armen, alten Mann bestehle", und überhaupt: "Was denn jemand mit einem einzigen Schuh anfinge?!"
Paul, der mir wohl an die 30 Mal die spärlichen photographischen Erinnerungen zeigte, die er ständig mit sich herumtrug, jedesmal mit im Wortlaut ähnlichen Erläuterungen. Nach dem zweiten Mal wusste ich, welche Art Fragen ich stellen musste, dass er sich dabei an schöne
Dinge erinnerte, und so fragte ich ihn denn auch oft - wenn es ihm schlecht ging - von mir aus nach den Photos.
Paul, der unglaublich einschnappen konnte, wenn etwas nicht nach seinem Kopf ging. Der immer um 4 Uhr morgens aufwachte und gewohnheitsmäßig das Radio anstellte, worauf dann sein unglaublich langmütiger Zimmernachbar "Mosi" ebenfalls wach war und manchmal auch die halbe Station.
Paulchen, der in meiner letzten Woche auf die "Rennbahn"* verlegt wurde, weil er zu verwirrt war, um zu wissen, dass man im Bett schläft und nicht auf dem Fussboden der Herrentoilette. Und weil man ihn keine Sekunde aus den Augen lassen konnte, weil er dann unter Garantie naschte - sein Blutzucker war meistens jenseits von gut und böse und der Verwirrtheitsgrad stieg proportional.
Der nur einmal in zwei Monaten Besuch bekam von einer früheren "Geliebten".
Dessen Kinder ihn nicht mehr kennen wollen, weil er ihr Leben versäumt hatte um zu saufen.
Der sich Pflanzen von anderen Stationen und Häusern
zusammenstahl und in seinem Badezimmer ein Feuchtbiotop anlegte.
Der einem ständig von dem Wenigen das er hatte, etwas schenken wollte - die schwarze Zigarettenspitze werde ich hüten, Paul.
Als Bild: Mit nachlässig hochgezogener Hose, die einen Gutteil des Hinterns sehen ließ; also der Unterhose,
so er denn eine trug, mit unterschiedlich farbigen Socken und zwei unterschiedlichen Schuhen, eine Baseballkappe oder meine gestrickte Mütze auf dem Kopf, eine Blume hinter dem einen und eine Zigarette hinter dem anderen Ohr, die zumeist kalte Pfeife im Mund und immer mit mindestens 3 Tüten oder Beuteln in der Hand und einem verschmitzten Ausdruck um die Augen.
Paul, der in seinem klarsten Moment an meiner Schulter untröstlich weinte; bei dem ich nicht wusste und immer noch nicht weiß, ob ich ihm Klarheit wünschen soll.

Volker, der sich Neuankömmlingen immer als "Helmut, 28, 4 Mal geschieden" vorstellte; in unregelmäßigen Jahresabständen "auf Urlaub" (zur Entgiftung) da war - immer hoffend, es einmal entgültig vom Alkohol zu schaffen.
Volker, der auf meinen Stossseufzer: "Nur Irre hier" immer ergänzte: "Und Schwule!", worauf wir gemeinsam vollendeten: "Und irre Schwule!", wobei er sympathischwerweise keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern machte.
Volker, der alle Tricks kannte, nach 17.00 Uhr noch heimlich Kaffee zu kochen, was zu beinahe rauschhaften Entgleisungen im Raucherraum führte.
Mit dem ich Nächte - auf Kaffee - durchquatschte, weil nichts schlimmer gewesen wäre für mich, als zu schlafen und träumen. Der mich alle Kniffe lehrte, wie man es als "Normaler" in der Psychatrie schafft, nicht ver-rückt(er) zu werden.
Volker, der es selbst in meinen (und manchmal auch in seinen) dunkelsten Stunden schaffte, mich zum Lachen zu bringen.
Der mich auf der Intensivstation anrief und sacht fragte, wie es mir denn ginge? Nach meiner Versicherung wohl noch zu leben aber einen Schwall losließ, "wie schwul, feige, dämlich und überhaupt ich denn sei?!", was mindestens so heilsam war wie das zwischen rüde und brutal angesiedelte Verhalten der Schwestern dort.
Volker, der mich nach meiner "Rückführung" auf den Berg als Erster begrüßte, in dem er mich fest in den Arm nahm und weinte, mir dann ins Gesicht schlug und mir in empütterten Ton mitteilte, dass ich "blöde, unzuverlässige Schwuchtel" schließlich noch gebraucht würde - "immerhin hätte ich die Kaffekasse!!!"
Volker, dessen rauhe, authentische Herzlichkeit ich sehr vermisst habe nach seiner Entlassung und dem ich nichts mehr wünschen kann, als "es zu schaffen" - also mit diesem Leben fertig zu werden.

* "Die Rennbahn" - patientensprachlich für die geschlossene Station P1: So genannt, da die Patienten - nicht frei und u. U. nicht fähig/willens hinauszugehen - ihre Tage zumeist damit zubringen, den langen Flur auf- und abzulaufen.


[Und die Erinnerung an das letzte Mal erzählen, betrunken, anders geht es manchmal nicht, vom schlimmsten Erlebnis seines Lebens. Und das Schweigen des Gegenübers, kein Wort, kein-still-in-den-Arm-nehmen, keine Träne. Ja, da hätte ich es schon merken können, dass deine Eiseskälte sich auch auf mich bezog. Ich lerne.]



+ 1.407.156 Bücher
451.475 anderes wie Filme und Musik. Aktuell, der Zähler läuft. Ich hab doch heute keine Zeit dafür, aber danke.

Gerade via Elektrobrief vom letzten almost-Lover darauf aufmerksam gemacht worden, dass es eine famose Tauschbörse für ungeliebten Kram gibt.
Ach Gott, endlich muss ich nicht mehr wie weiland beim letzten Umzug aus der grässlichen Stadt, kartonweise meine Bücher an soziale Einrichtungen verschenken, mich beschämt fragend, was die bedürftigen Menschen mit den gesammelten Reden Ernst Reuters in vier dicken Bänden, anfingen, die ich mal vor einem Altpapier-Container fand in tadellosem Zustand.

Oder all die einmal, nie wieder-Bücher, Leseexemplare zumeist, die meine Buchhandelsschwester in meine Richtung transferiert, auf dass ich mein wohlfeiles Urteil spräche. Oder der Unterhaltungsquatsch, den ich ab und an haben muss, weil ich morgens im Zug nicht immer Camus und Konsorten verkrafte. Fast-food-Bücher, die nur rumstehen und Platz klauen.

Ich kann keine Bücher wegwerfen, ich hab's versucht. Aber tauschen, das kann ich - unter diesen fast anderthalb Millionen, Teils antiquarischen Büchern werde ich Schätze bergen, die den gewonnenen Platz in den Regalen aufwerten, leuchtender machen.
Schönschön, jetzt brauche ich nur noch Zeit, ca. 100 Bücher (für's erste) abzulichten und einzustellen dort.
Denn vor dem nehmen, kommt das geben, so soll das ja auch sein.