Sonntag, 14. März 2010
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Wie man sich machmal innerlich krümmt, weil man das kurze Gefühl hat, in der Mitte durchzubrechen. Kein Zusammenbrechen, nein, ein kurzer, scharfer Schmerz, Seelenäquivalent zum Rücken. Und wie man dann langsam den Rücken wieder durchstreckt, vorsichtig ein paar Schritte tut, bis es von selbst und wieder rund läuft.

Als wäre da ein großes, hässliches Tier in mir, dass immer nur darauf wartet, mal kurz seine Pranken in meine Seite zu schlagen. Und immer wieder leises Erschrecken, wie wenig es manchmal braucht, wie nichtig die Anlässe, wie klein die Dinge, die das Tier hervorstürzen lassen. Und nein, das bricht einen Rücken nicht, gerade gehen wollen wir und uns halten.

Manchmal denke ich, ich bin zu dicht an mir dran. Nackt. Zu ungefiltert rauscht da manchmal alles durch die Räume. Vielleicht muss ich ein paar von den Schutzmauern wieder aufbauen, die ich so mühsam abtrug.

Und das Erstaunen der Menschen manchmal, wenn man sie ganz dicht in die Nähe lässt, die einen immer stark wähnen. Wer ist das denn? Am stärksten und am dauerhaftesten bin mit jemandem und für jemandem, trotz oder gerade wegen der Unverhülltheit. Mit mir bin ich immer nur nackt in diesen Räumen.





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Der Tankstellenmitarbeiter beobachtet mich, wie mein Blick suchend über die Zeitungen streift. "Hat sich ausjebildet", sagt er. Ich gucke irritiert, er ergänzt: "Bild und BZ sind aus".

Trotz der Tatsache, dass ich Sonntags mittags schon mal lässiger durch's Viertel laufe, das ist ja nun echt ... also.
"Ich suche die Zeit und verstehe das mal nicht als indiskutablem Anwurf.", sage ich. "Häh?", sagt er und ich denke: Hergott, jetzt redest du schon so geschwurbelt, wie du schreibst, bisschen aufpassen, jetze. Zeitfach ist voll, irgendwie auch klar.

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Im Magazin ein schönes, leises Interviwe mit Patti Smith, umrahmt von Bildern und Anekdoten zu dieser Zeit. Sie redet über ihr Leben, ihre Lieben, ihre Toten.
Selten so ein starkes Bedürfnis gehabt Because the night zu hören.

desire is hunger is the fire I breathe

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Sehr seltsam hingegen ist Folgendes: Im Beileger Zeitmagazin ist ein Hinweis auf das Foto, dass von Margot Käßmann 2 Monate zuvor in der Rubrik: "Ich habe einen Traum"abgebildet war (ein schönes Foto mit geschlossenen Augen, wie so häufig, dort) und das in diversen Tageszeitungen abgedruckt wurde, auch und gerade dann im Zusammenhang mit ihrem Rücktritt.

Im zweiten Beileger der Zeit diese Woche, dem chrismon (das evangelische Magazin, das monatlich erscheint), findet sich auf Seite 10 die übliche Kolumne von Frau Käßmann "auf ein Wort", in der es um Staatsverschuldung geht. Unter ihrem Foto dort steht: Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann ist Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und Herausgeberin ds Magazins chrismon

Hey, mir ist schon klar, dass es so etwas wie Druckschluss gibt und auch, dass Frau Käßmann momentan vermutlich viel um die Ohren hat. Ich will hier auch nicht ihren Rücktritt diskutieren, dass ist ihre ureigenste Entscheidung, auch wenn ich es schade fand.
Aber meiner Erinnerung nach ist der Rücktritt auf den 24.02.datiert und die dieswöchige Zeit-Ausgabe auf den 11.03.. Und sie ist Herausgeberin.

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Via Jens Scholz mal in den 125 Rare Photos of Famous People gestöbert.

Und mich erinnert, dass ich mal meine Favoritenliste von Fotographen der Fotocommunity verlinken wollte, die ist zwar uralt, aber Bilder sind ja auch zeitlos. Zu vielen finden sich keine Seiten (mehr), ein paar sind außerhalb im Netz aber zu finden:

Arkadius Zagrabski, der sehr düstere, eigenwillige Architektur- und Landschaftsaufnahmen macht - und, wenn ich mich recht erinnere, erst vor ein paar Jahren überhaupt anfing, zu fotografieren. Dafür hat er jetzt schon ordentlich Publikationen und Preise vorzuweisen.

Ein wunderschönes Projekt: Faces | Cities, mitinitiert, wenn ich das (wieder) richtig erinnere, von Hannes Caspar, dessen Bilder ich mir alle an die Wand hängen würde und der für mich der beste Fotograf in der Community war.
Vielseitig, anders und besonders bei den Akt- und Portraitfotos meistens so dran, dass man sofort Modell stehen werden wollte.

Nicht zu vergessen, die persona non grata, den ich sehr schätze wegen seiner sensiblen Frauenportraits.



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DLF kann man ja ganz gut hören. Kann man mal machen. Sogar nebenbei. Gestern Abend kam ein Beitrag über Erich Fromm, danach duchaus hörenswerte Nachtkonzerte, bis endlich! gegen vier Uhr morgens das Licht in Fräulein L.s Schlafgemach erlosch.
Süße Träume umfingen mich, bis gegen 135 Minuten später plötzlich etwas aus den Lautsprechern kam, was ich nicht zuordnen konnte und nicht hören wollte. "Die sieben Worte Jesu Christi am Kreuz" und es brauchte fünf Anläufe, bis ich erkannte, dass ich wieder vergessen hatte, die Weckfunktion abzustellen und dass mir die "Geistliche Musik" am Sonntag auf DLF oftmals nicht zusagt.

Nach mühseligem Wiedereinschlafen, klingelt dann nochmal 120 Minuten später das Telefon, weil ich das auch wieder nicht leise gestellt habe. Und ich begehe den selben Fehler wie immer; anstatt folgerichtig zu denken: Eyh, ist ist kurz nach acht. Am Sonntag! Habt ihr sie noch alle? denkt mein verschlafenes Ich: Hui. So früh. Könnte wichtig sein. Geh mal ran.

Er: "Du hörst dich ein bisschen müde an."
Ich: "Ja, bin ich auch. Ein bisschen."
Er: "Ja, hört man ein bisschen."
Ich: "Redundanz ist ja ein Hauptmerkmal des gesprochenen Wortes."
Er: "Geschwürninbrütz?"
Ich: "Ist das jetzt das Einzige, weswegen du mich um kurz nach acht aus dem Bett holst?!"
Er (pikiert): "Nein, ich wollte nur mal wieder hören, wie es dir so geht."
Ich: "Müde. Ein bisschen."

Mein Lebensmensch beendet seine Anrufe ja seit Jahr und Tag mit der schmissigen Abschiedformel: "Tschö dann, bis die Tage, leg dich wieder hin!", aber ich krempel die Ärmel hoch und sage: "Okay Tag, du willst es, du kriegst es. Bis einer heult."

In diesem Sinne.



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Warum ich mir beim stundenlangen Netzgelese die zarte geschundene Hüfte weiter auf dem Stuhl malträtiere, obwohl ich mich behaglich dank Schlepptopp und W-Lan in meiner Kissenburg räkeln könnte, können Sie mir jetzt aber auch wieder nicht erklären, stimmt's?



+ Ein Text von einem anderen Tag, ein Metatext auch: Fräulein L. outet sich
Also, wenn Sie Musikfaschist mit Überzeugung sind, vorhatten, mich zu ehelichen oder beizuschlafen oder auf ein Bier einzuladen, und nur ein kleiner Hauch Hoffnung besteht, dass dieses Ansinnen wohlwollend aufgenommen würde, eher so der Twitter-Mensch mit einem Horror vor langen Texten sind - eine deutliche Bitte: Nicht weiterlesen!

Allen anderen ein freundliches Hallo im investigativen Dunkel, dem Ort, wo Geheimnisse gelüftet, Höschen Schleier zerrissen und gnadenlose, grell ausleuchtende Wahrheitsliebe herrscht.

Das Fräulein L. ist - das müssen Sie mir, da Sie mich ja nicht so kennen, einfach mal glauben - eine Freundin des Feinen, ein Genussmensch also, auch und besonders, was Musik angeht.
Hauptsächlich hört sie so eher Chartfernes aus den Bereichen Soul, Jazz, Blues, Rock, (Post-)Punk, Indipendent, Alternative und sehr viel Klassik. Auch anderes, diese Kategorien sind ja, nunja.

Aufgewachsen ist sie mit einer bunten Mischung. Gediegene Sachen, die man heute auch besitzt und niemals verstecken würde:
Joan Baez, Bob Dylan, Leonhard Cohen, Neil Diamond, Georges Moustaki, Jaques Brel, Hannes Wader, Léo Ferré, Herman van Veen, Pete Seeger, Glen Campbell und einige andere - Liedermacher also allesamt, für die sie selbst eine tiefe Liebe pflegt.
Die waren von der tieftraurigen, intellektuellen Mutter in diese seltsame Verbindung eingebracht und - bedingt durch die 10/12 monatige Abwesenheit des Vaters in der Kindheit, auch am häufigsten eingeprägt.

Und dann gab es die Kassetten. Aufgenommen vom Vater an seinem selbstgewählten Arbeits-Exil, triefend von Kitsch und Sentiment und Selbstmitleid, Schlagerkassetten.

Meine Mutter, die diesen Mann, der er damals war*, unerklärlicherweise abgöttisch geliebt hat, spielte diese Kassetten immer, den ganzen Tag hoch und runter, wenn er auf einem seiner seltenen Monatsbesuche war und häufig genug auch dazwischen. Sie war auch nah dem Sentiment, aber manchmal denke ich, seine Gefühle hat sie sich nur über seine kitschige Musik gezogen.

Nachts, wenn alles schläft, solltest du bei mir sein, Sie sind im Bilde. Die Ironie an derlei Texten und der Situation, kann ihm eigentlich nicht entgangen sein, intelligent wie er ist, aber gut.

Als Kind fand man das toll, eingängige Texte, deutsch natürlich, leicht mitzusingen - wenn ich sehe, wieviel Spaß meine kleine Mini-Nichte beim Singen von Kinderliedern hat, ist das klipperklar.

Sie sind auch ein Stück Kindheit, eines der wenigen, da mein gnädiges Gedächtnis mir die meisten Teile sperrt. Und ich hatte diesen Teil auch schon verschütt gewähnt, als mich eines Tages der Ruf meiner großen Schwester ereilte: Die M. hat Geburtstag, einen großen Runden; wollen wir da neben haufenweisen, reizenden Geschenken nicht auch was ganz Ausgefallenes machen?
Daraufhin wurde beratschlagt, verworfen, also - neudeutsch - gebrainstormt, bis die Synapsen keuchten und am Ende stand ein verwegener Plan: Wäre es zu schaffen, für die M. diese längst geschredderten Kassetten wieder neu zusammen zu bringen, würden uns also mindestens die runde Zahl des Burzeltages noch an Liedern einfallen?
Und würde ich sie beschaffen können? Alsgleich ging man die Verwirklichung; nach unsrem Überschlagen gab es ca. 150 Lieder auf diesen Kassetten in Summe. Dann traf man sich, die große Schwester, die ja schon damals größer war, erinnerte aus dem Stand schon mal 15-20, die mir nie eingefallen wären; man summte und sang sich einzelne Passagen, Melodien vor, nächtlenag; das Fräulein L. notierte jedes Fitzelchen akribsch, recherchiert tagelang, wälzte Chartlisten deutschen Liedgutes aus 5 Jahrzenten, trieb sich in einschlägigen Foren und Musikkaufstationen herum, denn es gab ein großes, großes Hindernis: Das mussten selbstverständlich exakt die Versionen sein, die man kannte. Wenn schon, denn schon. Und das war mehr als schwierig, aber nach geraumer Zeit war es vollbracht.

Mehr als 90 hatten wir gefunden, von einigen ließ sich keine Version mehr auftreiben, von manchen nur die falsche, aber die angestrebte Zahl hatten wir trotzdem locker aus dem Stand übersprungen. Das Fräulein L. verwurstete das liebevoll in mühseliger Kleinarbeit in gepresste Formen; mein immerwährender Dank gilt meinen Kollegen, die es klaglos ertrugen, dass ich während dieser Zeit auf Arbeit ständig Schlager summte oder sang. Gut, seitdem gelte ich als noch seltsamer, aber ich habe intern ja sowieso den Namen Emily the Strange, außerdem ficht das Fräulein sowas ja nicht an.

Und das war eine Freude und ein Hallo, dafür hat es sich schon gelohnt. Aber um jetzt den dramatisch schwellenden Spannungsbogen mal abzubiegen, also mal zum schlimmen Teil zu kommen: Diese Lieder befinden sich selbstverständlich noch auf meinen Computern und Festplatten, dafür habe ich ja schließlich bezahlt und wer weiß, ob da nicht mal nachgeschossen werden muss. Und jetzt also kommt's, psssst: Das Fräulein L. hört die. Manchmal, also sehr manchmal, quasi rarely, aber eben auch nicht nie. Heimlich über Kopfhörer, damit die Nachbarn es nicht hören, niemals in Gegenwart anderer und immer etwas bestürzt.

Und wenn dann also das Fräulein L, wie gestern an einem bösen Beitrag über die ersten Schuljahre schreibt, dann tippt die Maus quais eigenständig, diese geheime und versteckte Playlist an.
So und jetzt nehmen Sie ne Pille, gehen petzen und denken sich bitte was Unanständiges.

Ich geh derweil mal ein bisschen gute Musik hören. Auf Zuruf poste ich auch gerne ein Bild dieser Playlist, soweit wollte ich im ersten Enthüllungsdrang nicht gehen.
*pfeifend ab

[*Menschen können sich ändern, sogar, wenn sie schon älter sind - mittlerweile würde ich auch den männlichen Part meines Kindheitsdramas nicht mehr eintauschen.]